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von Rainer Liepold

23 Minuten müssen reichen?

Ist die Verdrängung des Todes das "Urdatum" aller Ausgrenzungen? Ein Gedanke, der mich gerade beim Packen der Talartasche für eine typische Trauerfeier beschäftigt.

"Der französiche Sozialphilosoph Jean Baudrillard beschreibt, dass der Ausschluss der Toten aus dem gesellschaftlichen Verkehr als Grunddatum einer immer unaufhaltsameren Entwicklung angesehen werden muss, durch die nach und nach alles Leben entleert wird. Mit dem Ausschluss der Toten ist ein Modell für alle späteren Ausgrenzungsprozesse gegeben. Erst werden die Armen und Irren ausgegrenzt, dann folgt die Verbannung der Feste und ekstatischen Zeiten, der Heiligen und der Märchengestalten, und am Ende die Verdrängung aller ökonomisch überflüssigen Lebenspraktiken und des Religiösen. Mit einem Wort: Die Verbannung des ganzen symbolischen Reichtums einer Gesellschaft."

Das lese ich gerade (Zitat: Hans-Martin Gutmann). Und wenn ich das Buch jetzt weglege, packe ich die Talertasche für den Friedhof.

Mich erwartet so eine typische 23-Minuten-Musik-vom-Band-Vorhang-schließt-sich-per-Fernbedienung-Großstadt-Trauerfeier. Nein, die Verstorbene war nicht unbeliebt. Und - nein! - die Angehörigen sind keinesweg herzlos oder emotionsarm. Ganz im Gegenteil: Sie haben sich über eine lange Distanz intensiv um die Verstorbene gekümmert. Ihnen ist der Glaube eine Herzensangelegenheit. Sie haben ganz selbstverständlich den Aufwand von mehreren Stunden Zugfahrt und zwei Hotelübernachtungen auf sich genommen. Das ist es ihnen wert!

Doch dann? Die Trauerfeier wird einfach nur “normal” gestaltet. Musik von CD, Halle für 20 Minuten. So setzt die effizienzverliebte Gesellschaft den Rahmen.

Ich frage mich: Hat die Ökonomie die Toten verdrängt? Könnte die Rückkehr der Toten, dass wir uns für sie Zeit nehmen, unsere Gesellschaft insgesamt humaner machen?