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von Anja

Mit Verstorbenen leben

Roland Kachler, Psychologe, Trauertherapeut und Theologe erlebt den Weg der Trauer dann als erfüllend und gelungen, wenn die Liebe zum verstorbenen Menschen bleiben darf, aber transformiert wird in Erinnerung. Mit einer Phantasiereise zeigt er, wie dies gelingen kann.

Stellen Sie sich vor, Sie gehen an einem Strand spazieren. Barfuss, den Salzgeruch des Meeres in der Nase, eine Meeresbrise weht Ihnen durchs Haar.

Ihr Blick fällt auf einen Gegenstand im Sand. Sie heben eine Scherbe aus Spiegelglas auf und schauen in diesen kleinen Spiegel. Mit Erstaunen sehen Sie, wie Ihnen Ihr geliebter Mensch in diesem Spiegelstück entgegenkommt. Sie sehen auch, wie Sie jetzt selber loslaufen und Ihrem geliebten Menschen in die Arme fallen.

Doch plötzlich - als Sie die Scherbe ein klein wenig bewegt haben - verschwindet dieses Bild wieder. Das macht Sie traurig, doch Sie bewahren die Scherbe in Ihrer linken Hand auf.

Sie gehen ein Stück weiter und finden eine weitere Spiegelscherbe im Sand. Mit der rechten Hand heben Sie sie auf und wieder sehen Sie, wie Ihr geliebter Mensch und Sie sich in die Arme fallen. Dabei sind Ihre Körper lichtdurchflutet und leicht. Sie spüren, dass Sie einander im Geist der Liebe begegnen. Sie sind sich unendlich nahe und fühlen sich frei.

Aber dann verschwindet auch dieses Bild wieder. Doch von jetzt an suchen Sie gezielt nach weiteren Spiegelscherben.

Die nächste Scherbe, die Sie finden, ist trübe. Nur wie von weiten und undeutlich erkennen Sie in ihr Umrisse und Schatten. Doch der Himmel ist klar zu sehen, transparent und voll warmen Lichts. Sie spüren, wie Sie sich mit ihrem geliebten Menschen schwebend leicht im Tanz drehen, zu Klängen, die vertraut und doch ganz anders sind.

Jetzt halten Sie drei verschiedene Spiegelscherben in Ihrer Hand. Wie schön wäre es, wenn Sie diese Scherben zu einem Spiegel zusammensetzen könnten. Sie knien sich aufgeregt in den Sand und versuchen, die Scherben zu einem Spiegel zusammenzusetzten. Doch alle Versuche scheitern, die Bruckstücke greifen nicht ineinander. Und doch geht Ihr Herz auf und wird von Liebe überflutet, weil Sie die Schönheit einer Wiederbegegnung ahnen.

Plötzlich kommt eine Welle und schwemmt die Scherben weg. Sie versuchen sie noch festzuhalten, aber es ist zu spät: Sie werden ins Meer gezogen und sind für immer verloren.

Nach einer ersten Enttäuschung kommt aber dann doch ein Gefühl tiefen Trostes in Ihnen auf. Sie wissen: Die Bilder in den Scherben, die tragen Sie jetzt in sich und Sie werden sie immer wieder in sich finden können.

Sie wissen jetzt, dass Sie immer wieder an diesen Strad zurückkehren können, nach neuen Scherben suchen und welche finden werden. Manchmal wird das eine längere Suche, manchmal geht es ganz schnell. Oft sind es die Ihnen vertrauten Speigelscherben. Ganz selten wird auch mal ein neues Spiegelstück dabei sein, das Sie weitere Bilder vom Wiedersehen mit Ihrem geliebten Menschen entdecken lässt. Jedes Mal, bei alten und neuen Scherbenstücken, sind Sie beglückt und getröstet.

Auch wenn Sie nach den Strandspaziergängen dann in den Alltag zurückkehren, wissen Sie, dass Sie jederzeit wieder an den Strand kommen, Erinnerungsscherben suchen und finden können.

Und Sie wissen zunehmend, dass Sie eines Tages in den ganzen Spiegel blicken werden. Nein, noch mehr: dass Sie durch den ganzen Spiegel hindurchschauen werden und durch den Spiegel hindurch auf Ihren geliebten Menschen zugehen werden, um ihm endlich in die Arme zu fallen.

 

(Etwas gekürzt und mit ein paar sprachlichen Anpassungen übernommen aus einem Buch, das mir sehr geholfen hat: Roland Kachler, Meine Trauer wird dich finden. Ein neuer Ansatz in der Trauertherapie, Herderverlag, 2005, S. 175f)